Prolog

 

Bevor ich mich aufmachte, um als Hospitalera — als ehrenamtliche Herbergswirtin — in Pilgerunterkünften am Jakobsweg zu arbeiten, wurde im Freundeskreis gern darüber spekuliert, was ich während dieser Zeit wohl alles erleben könnte. Die meisten Freunde fanden meinen Plan, im Urlaub in Pilgerherbergen vermeintlich niedere Dienste tun zu wollen, ziemlich verschroben. Ein Vorhaben, das nur dadurch geadelt werden konnte, dass mir dabei etwas ganz Außergewöhnliches widerfuhr. Von den Szenarien, die in diesem Zusammenhang entwickelt wurden, war meine Lieblingsphantasie folgende:

Ich stellte mir vor, auf dem Balkon der Herberge zu stehen und Decken auszuschütteln, als ich drunten am Brunnen einen Pilger sitzen sah, der sich dort die Füße kühlte. Bei dem Pilger — einem Mann gerade im passenden Alter und selbstverständlich sehr gut aussehend — handelte es sich um einen brasilianischen Großgrundbesitzer, seit einem Jahr verwitwet, der sich auf den Camino begeben hatte, um den Verlust seiner geliebten Frau zu überwinden und endlich wieder Freude am Leben zu finden. Wie ich ihn da sitzen sah, rief ich hinab: „Señor, das Brunnenwasser allein wird Ihren müden Füßen nicht helfen. Lassen Sie mich Ihnen ein Fußbad mit Essig und Salz zubereiten.“ Als ich ihm dann den Bottich brachte, vor ihn niederstellte und er mich dabei zum ersten Mal richtig ansah, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. „Heiliger Jakobus“, rief er, „du hast meine Gebete schon erhört, bevor ich meinen Pilgerweg zu Ende gegangen bin. Ich habe das Glück meines Lebens wieder gefunden.“

Und es ging weiter, wie es sich für ein anständiges Märchen gehört — wir pilgerten gemeinsam nach Santiago, wurden in der Kathedrale daselbst getraut, reisten danach auf seine Latifundien in Brasilien und lebten dort glücklich und in Freuden — und wenn wir nicht gestorben sind, dann leben wir noch heute.

Aber diese Phantasie war natürlich völliger Blödsinn. Im wirklichen Leben kam alles selbstverständlich total anders.